Fig. 003-IR-13 (Jacky), Athboy

Jacky zählt zu den Glücklichen seiner Art. Er wurde verkauft, vergessen, misshandelt – aber er lebt noch. Jacky, oder besser: Jackie, denn wer seine Geschichte kennt, spricht den Namen französisch aus, wurde nicht zum Schwarzmarkt nach Smithfield gezerrt. Er wurde nicht nach Dunsink getrieben und sich selbst überlassen. Er wurde nicht zu Lasagne gemacht.

Eine Autostunde westlich von Dublin steht Jacky auf einer Koppel, irgendwo im irischen Moorland, wo man tags keine Menschen hört und nachts die Sterne sehen kann. »Bevor wir kamen, gab es hier nichts – keinen Strom, keine Straßen, nur den Boden unter unseren Füßen«, sagt Kevin Cunningham, ein Mann mit roten Haaren, Cargo-Shorts und traurigen Augen. In einem Land, dessen Baubranche boomte, wollte er sich die Zivilisation vom Hals halten.

Hier, in der Grafschaft Meath, gründete Kevin Cunningham in den 2000ern sein Tierheim, das National Exotic Animal Sanctuary. Als er die Tore öffnete, durch die wenig später Jacky kommen sollte, boomte die Baubranche nicht mehr. Die Finanzbranche war zusammengebrochen und mit ihr die irische Wirtschaft. Die Zivilisation ist Cunnigham fern geblieben, abgesehen von den Torfstechern, die hier abtragen, was Jahrhunderte zum Wachsen brauchte.

Die Neunziger Jahre waren das irische Jahrzehnt. Bis dahin galt Irland als »armer Mann Europas«, als Land der Kartoffelpest und der Hungersnöte. Wie Europa noch Mitte des 20. Jahrhunderts die Iren wahrnahm, kann man in Heinrich Bölls millionenfach verkauftem Irischen Tagebuch nachlesen: als arme, simple, fromme Leute in einem rückständigen und romantischen Land. Dann öffnete sich Irland für die Welt – und alles änderte sich.

Seit den späten Fünfzigern brauchen ausländische Unternehmen, die in Irland investieren, keine Unternehmenssteuern mehr zu bezahlen. Damals waren die Löhne hier niedriger als anderswo. Sprachbarrieren für amerikanische und britische Firmen gab es nicht. Ab 1973 brachte die Europäische Gemeinschaft zusätzliches Geld ins Land, etwa in Form von Landwirtschaftssubventionen. Ab den Neunzigern boomte die irische Wirtschaft, es kamen Google, Facebook – und der Euro. Als die Iren 2002 zu den ersten gehörten, die ihre nationale Währung aufgaben, zählte ihr Land zu den wirtschaftlich leistungsstärksten Europas.

»Während der Boomjahre wollte jeder ein großes Auto und ein großes Haus«, sagt Kevin Cunningham, »und einen kleinen Hund für die Handtasche.« Dann kam die Krise. 2008 platzte auch in Irland die Immobilienblase. Das Auto wurde verkauft. Das Haus verpfändet. Das Hündchen vor die Tür gesetzt. Und nicht nur das Hündchen – sondern auch hunderte Pferde und exotische Tiere.

In Cunninghams Tierheim landete etwa eine Boa Constrictor. Deren Vorbesitzer brachte das Tier persönlich vorbei, sagt Cunningham. Er musste wieder bei seiner Mutter einziehen. Als gute Katholikin wollte sie mit Schlangen nichts zu tun haben. Der Junge durfte rein, die Boa musste raus.

Vor dem Reptilienhaus, das Cunningham mit Öl beheizt und dessen improvisierte Terrarien aus Spanplatten und Einbaufenstern bestehen, trottet ein Emu umher. Ein straußenartiger Laufvogel, von dem Cunningham sagt, sein Vorbesitzer hätte ihn sich als Gartendeko gehalten. Daneben streunen Ziegen durch ihre Gehege, in einem Verschlag leben Kaninchen, ein Schäferhund.

Eigentlich wollte Kevin Cunningham nur exotische Tiere aufnehmen, deren Bedürfnissen die älteren und staatlich geförderten Tierheime nicht gerecht wurden. Und die es in Irland in großer Zahl gab, weil Irlands liberale Wirtschaftspolitiker nicht dazu gekommen waren, Artenschutzgesetze und Einfuhrbeschränkungen im Stile anderer europäischer Länder zu formulieren.

Doch aus der Beschränkung auf exotische Tiere wurde nichts. »Zwei oder drei Monate nachdem wir unser Internetseite veröffentlicht hatten, erreichten uns bis zu 40 Anrufe pro Tag«, sagt Cunningham. »Wir nehmen inzwischen fast alles, was hier reinkommt.« Auch Jacky.

»Jacky« ist wie die Stalljungen ihn riefen. Offiziell wurde er als »Volnay« geführt, nach einem Weindorf in der Bourgogne. So hieß er, als er bei Turnieren antrat wie der Royal Windsor Horseshow – »ganz oben, an der Spitze des britischen Springreitens«, sagt Cunningham. Seitdem wechselte Jacky die Besitzer und wurde vom britischen Tunierpferd zum irischen Pflegefall. Nirgendwo in Europa gab es pro Kopf so viele Pferde wie hier – und nirgendwo wurden so viele Pferde überflüssig.

Die Schlachtereien brummen, obwohl Pferdefleisch nicht zur den nationalen Spezialitäten gilt. Auf Internetseiten bieten Kleinanzeigen die Tiere ab 120 Euro das Stück, »No Paperwork«. Das ist nicht legal, aber offenbar machbar. Auch ein halbes Jahrzehnt nach dem Ausbruch der Krise warnen Tierschutzverbände jeden Winter vor neuen Rekordzahlen ausgesetzter Pferde. Seit 2009, als Irland in die Rezession rutschte, wurden laut Tierschützern und Zeitungsberichten hunderte Pferde sich selbst überlassen.

Dass Kevin Cunningham inzwischen nicht nur Boas in seinem Tierheim hat, sondern auch Pferde, passt ganz gut. Für ihn sind das zwei Seiten einer Medaille: Die Reptilien, die geräuscharm und weitgehend geruchsneutral auch in Stadtwohnungen gehalten werden können – und sich als Eisbrecher für jede Cocktailparty eignen. Ein Haustier für die Yuppies. Und die Pferde, verbunden mit Irland seit den ersten Siedlern und den Urzeiten der keltischen Mythologie, die sich konservative Unternehmer kauften: als Statussymbol und als Wertanlage.

Beides könnte bald vorbei sein, nicht nur wegen der Krise: Einige Jahre nachdem die Banken gerettet und die Staatspleite abgewendet war, setzten sich die irischen Parlamentarier noch einmal an einen ungewöhnlichen Gesetzesentwurf – und schrieben eine Novelle des Tierschutz.

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[1] Heinrich Bölls Irisches Tagebuch liest man heute mit einem gewissen Erstaunen: Erstmals 1957 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, ist es ein Millionen-Bestseller ganz ohne Zauberlehrlinge und Sadomaso-Sex – dafür voller Aphorismen und Anekdoten eines durchs Land flanierenden Feingeistes. So was hat sich in der Bonner Republik bestens verkauft? Wow.

[2] »Kein anderes Land erlebte einen so schnellen Imagewandel«, schrieb ein Redakteur der Zeitschrift The Economist in einem Irland-Dossier im Oktober 2004, das den Boom des »Celtic Tigers« nachzeichnet – ohne von der nahenden Krise zu ahnen.

[3] Irland ist »eine Erfolgsgeschichte, die ohne die Europäische Union niemals möglich gewesen wäre. Erst im Gefolge des Beitritts ist die irische Insel zu einem politisch offenen und wirtschaftlich prosperierenden Land geworden«. Das schrieb Anfang 2013 Wolfgang Müller-Funk in seiner Reisereportage aus Irland.

[4] Erfahren haben wir von Kevin Cunningham und seinem Tierheim in einem Artikel der New York Times.