Fig. 008-ES-16 (Kondom), La Jonquera

Das Sperma eines Franzosen, das auf spanischem Boden in den Körper einer Rumänin gespritzt wurde. Auch das ist eine Folge der europäischen Einigung. Die Frage ist nur: Ist es erfreulich? Unvermeidlich? Ein Skandal?

Wir befinden uns in Katalonien, im Nordosten des spanischen Staatsgebiets. Die Bundesstraße 2 und die Autobahn 7 laufen hier nebeneinander durch die Pyrenäen. Kurz vor der französischen Grenze beginnt das Städtchen La Jonquera. An seiner Hauptstraße stehen zweigeschossige Häuser mit verputzten Fassaden. Alte Männer sitzen auf Bänken davor und beobachten die Passanten. Am Hang wachsen Agaven und Feigenkakteen.

La Jonquera ist ein verschlafenes Nest, dessen wichtigster Wirtschaftsfaktor seine Grenzlage ist. Das wird schlagartig klar, wenn man das Städtchen verlässt. Hier beginnt das Gewerbegebiet mit Outlet-Centern, Tankstellen und Discountern: Geschäfte für die französischen Touristen. Einige hundert Meter weiter werben Grill-Restaurants in mehreren Sprachen für »All you can eat«-Buffets: Geschäfte für die Fernfahrer.

Auf den Straßen dazwischen: Das Geschäft, das Touristen und Trucker verbindet. Frauen mit dunklem Teint und plastikblonden Haaren, in Bikinis und auf Acryl-Plateaus. Die ihren Rücken zur Straße drehen, sobald sich ein Auto nähert, und ihre Pobacken über den Fahrbahnrand strecken. Die gelegentlich in einen der Wagen steigen und ihn zu sichtgeschützten Parkplätzen lotsen. Die La Jonquera den Ruf eingebracht haben, ein spanischer »Sex-Supermarkt« zu sein.

»Es ist ein Problem für das ganze Land«, sagt Sònia Martínez Juli: »Das erste, was die Leute sehen, wenn sie nach Spanien kommen, sind die Prostituierten.« Sònia Martínez Juli ist die Bürgermeisterin von La Jonquera. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch vor der gelb-rot-gestreiften Flagge Kataloniens und zeigt die Polizeiberichte, die sich in den letzten Wochen angesammelt haben. Es geht darin um Männer und Frauen, die in flagranti erwischt wurden, auf Parkplätzen und auf Feldwegen. In den Berichten tragen die Männer französische Namen, die Frauen osteuropäische.

Seit dem Jahr 2003 ist die Ausübung der Prostitution in Frankreich de facto verboten, im April 2016 wurden die Strafen für Freier dort noch einmal verschärft. In Spanien gibt es hingegen kein Gesetz, das die Prostitution auf nationaler Ebene untersagt oder regelt, so erklärt es die Bürgermeisterin von La Jonquera. »Früher gab es hier zwar Bordelle, aber keine Straßenprostitution«, sagt sie. Wenige Jahre nach dem Verbot in Frankreich habe sich das geändert. Da sei die Straßenprostitution in La Jonquera explodiert.

Es seien keine Spanierinnen, die hier anschaffen, sagt die Bürgermeisterin. Etwa 90 Prozent der Frauen kämen aus Osteuropa, vor allem aus Rumänien und Bulgarien. Das deckt sich mit den Einschätzungen von Tampep, einer Organisation, die sich für die Rechte ausländischer Prostituierter einsetzt und dafür auch Gelder der Europäischen Union bekommen hat. In ganz Spanien sind laut Tampep 80 bis 90 Prozent der Prostituierten Ausländerinnen, europaweit liegt der Schnitt demnach bei etwa 50 Prozent. »Sexarbeiterinnen«, schreibt Tampep, »sind außergewöhnlich mobil.« Die größte Migrationsbewegung führe dabei nicht von Afrika, Lateinamerika oder Russland in die EU, sondern verlaufe innerhalb des Kontinents, von Ost- nach Mittel- und Westeuropa.

Verlässliche Daten zur Prostitution in der Europäischen Union gibt es kaum. Auch die Zahlen von Tampep, die auf Umfragen unter Sozialarbeitern basieren, sind nicht im wissenschaftlichen Sinne repräsentativ. Sie sind zudem recht alt. 2008 führte Tampep die letzte Befragung durch, das war kurz nach dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien. Seitdem, das zeigt der Vergleich zu älteren Tampep-Umfragen, stieg die Zahl der Prostituierten aus diesen Herkunftsländern. Kein Wunder: Eine rumänische Prostituierte braucht heute kein Visum und keine Arbeitserlaubnis mehr, um in Westeuropa anschaffen zu können.

Darüber, ob diese Frauen von der Armut in ihren Heimatländern nach Spanien getrieben oder von Zuhältern gebracht werden, macht Tampep keine Aussage. Unklar bleibt also, ob die Prostituierten ihre Arbeit freiwillig und gerne machen, ob sie ihr mangels Alternativen nachgehen, oder weil sie dazu gezwungen werden. Offen ist auch, warum eine Frau aus Rumänien (wo die Prostitution verboten ist) bis nach Spanien kommen sollte, statt auf halber Strecke in Deutschland zu bleiben (wo die Prostitution – wie in Spanien – nicht verboten ist). Die Bürgermeisterin von La Jonquera vermutet, dass es sich bei den Prostituierten in ihrem Ort auch um Opfer von Menschenhandel und Zuhälterei handelt.

In Europa tobt schon seit Jahren eine erbitterte Debatte darüber, wie mit Prostitution am besten umzugehen sei – und wie man Zwangsprostitution stoppen kann. Im Jahr 2002 wurde in Deutschland die bis dahin geltende »Sittenwidrigkeit« der Prostitution aufgehoben. Das entspricht einer Legalisierung, auch wenn die Ausübung dieser Arbeit weiterhin durch Landesgesetze und kommunale Sperrbezirke eingeschränkt wird, etwa mit Verweis auf den Jugendschutz.

Kurz vor dieser Gesetzesreform in Deutschland war die Prostitution in Schweden verboten worden, später folgten Verbote in Norwegen und Island. Amnesty International empfahl 2015 eine internationale Entkriminalisierung. Das fordert auch Tampep, die Hilfsorganisation für Sexarbeiter. Die Weltgesundheitsorganisation äußert sich nicht politisch, rät Regierungen aber, die Rechte von Prostituierten zu stärken. Andere fordern ein Verbot der Prostitution, auch in Deutschland, teils mit rigoroser moralischer Polemik.

Zentrale Fragen sind dabei: Kann man die Prostitution abschaffen, oder muss man sich mit ihr arrangieren? Soll man die Rechte von Prostituierten stärken, indem man ihnen den Weg zu einer Kranken- und Rentenversicherung öffnet und ihnen erlaubt, rechtskräftige Verträge abzuschließen? Oder ermutigt man dadurch vor allem die Freier, wie Kritiker behaupten, und erschwert zudem die Strafverfolgung der weiterhin illegal handelnden Zuhälter und Frauenhändler?

Während sich Politik und Öffentlichkeit in Europa streiten, arrangieren sich die Freier, die Bordellbetreiber und wohl auch die kriminellen Zuhälter. Ausländische Freier gibt es heute überall dort, wo ein Land mit einer strengen Gesetzgebung an eines mit liberalen Gesetzen grenzt. »Es kommen viele Gäste aus Skandinavien, aus Schweden, aus Norwegen«, sagt zum Beispiel ein Bordellbetreiber aus Berlin. Auf beiden Seiten Frankreichs beanspruchen Bordelle für sich, das »größte in Europa« zu sein. Das Pascha in Köln wirbt mit diesem Spruch und auch das Paradise in La Jonquera.

Die Bürgermeisterin Sònia Martínez Juli sagt, La Jonquera sei die erste Stadt in Spanien gewesen, die ein kommunales Verbot der Straßenprostitution verabschiedete. Über die Bordelle habe sie keine Hoheit. Inzwischen hätten sich 67 andere Kommunen im spanischen Grenzgebiet dieser Regelung angeschlossen. Wird ein Freier bei der Kontaktanbahnung mit einer Prostituierten ertappt, muss er 750,01 Euro zahlen. In Frankreich kostet die erstmalige Kontaktaufnahme 1500 Euro Strafe.

Die Prostituierten in La Jonquera werden nur dann bestraft, wenn Polizisten sie in flagranti mit einem Kunden erwischt. Alles andere würde die Polizei der kleinen Stadt überfordern, sagt die Bürgermeisterin. Überhaupt sei die Bestrafung der Prostituierten ein administratives Problem: Viele hätten keine Meldeadressen, deshalb könnten Strafzettel nicht zugestellt werden.

Und so stehen die Prostituierten weiterhin entlang der Bundesstraße 2 in La Jonquera von der französischen Grenze bis kurz vor den Nachbarort Figueres. Auf jedem Rastplatz findet man ihre Spuren: Leere Getränkedosen und Zigarettenpackungen, benutzte Feuchttücher, die wie Spinnweben in den Büschen hängen, und dort, wo Bäume den Blick abschirmen, auch Kondome.

Die meisten französischen Autofahrer, die in La Jonquera stoppen, tun das wegen der Shopping Malls, der Discounter, der »All you can eat«-Buffets. Doch immer wieder sieht man einzelne Autos mit französischem Kennzeichen, bei denen sich eine Prostituierte ganz unbehelligt ins Fenster lehnt. Auch das ist eine Folge der europäischen Einigung. Die Frage bleibt: Ist das erfreulich? Unvermeidlich? Ein Skandal?

(Foto/Text: Mai 2016)

Weiterlesen

[1] Den Hinweis auf La Jonquera verdanken wir Spain’s Sex Supermaket, einem kurzen Online-Dokumentarfilm über die Prostitution in Spanien aus dem Jahr 2015. Er kann hier kostenlos abgerufen werden.

[2] Der oben zitierte Bericht der Organisation Tampep trägt den Titel Sex Work in Europe: A mapping of the prostitution scene in 25 European countries. Er wurde 2009 veröffentlicht und findet sich hier als PDF-Download. Die rechtliche Situation in Deutschland schildert eine Broschüre des Frauenrats, der als Dachverband die deutschen Frauenorganisationen vertritt. Sie heißt Prostitution in Deutschland – Fachliche Betrachtung komplexer Herausforderungen, wurde 2014 veröffentlicht und kann hier herunter geladen werden. Mehr Informationen zur Position von Amnesty International finden sich hier sowie zur Weltgesundheitsorganisation hier.

[3] Eine Auseinandersetzung mit der Prostitution speziell in der spanisch-französischen Grenzregion findet sich in dem Buch Du Visible à L’Invisible: Prostitution et Effets-Frontières von Sophie Avarguez, Aude Harlé, Lise Jacquez und Yoshée de Fisser, das 2013 im Verlag Balzac Éditeur erschienen ist.

[4] Über Prostitution und Zwangsprostitution fehlen Fakten, was bisweilen dazu führt, dass über diese Themen wie über Glaubensfragen gestritten wird. Beispielhaft lässt sich das anhand von zwei Büchern nachvollziehen:

Prostitution: Ein deutscher Skandal, herausgegeben von Alice Schwarzer und erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, ist eine Art »Best of« der Texte, die bis 2013 in Schwarzers Zeitschrift Emma erschienen sind. Viele Beiträge sind aufschlussreich, auch das Zitat des Berliner Bordellbetreibers stammt von dort. Immer wieder finden sich jedoch Tatsachenbehauptungen ohne Quellenangabe und ein kompromissloser moralischer oder suggestiver Ton. Der Bundesregierung, die 2002 eine Reform des Prostitutionsrechts beschloss, unterstellt Alice Schwarzer etwa, dies »vorgeblich« zum Schutz der Prostituierten getan zu haben – also die Wähler bewusst getäuscht und die Situation der Prostituierten wissentlich verschlechtert zu haben.

Eine ganz anderen Position vertritt die spanische Anthropologin Laura Agustín mit ihrem Buch Sex at the Margins: Migration, Labour Markets and the Rescue Industry, erschienen bei Zed Books, 2007. Sie ist bemüht darum, die Prostitution ohne moralische Urteile im größeren Kontext migrantischer Arbeit zu beschreiben. Das ist lesenswert. Agustín zeigt beispielsweise, dass nicht nur die Prostitution, sondern ein großer Teil der von Migrantinnen und Migranten ausgeübten Arbeit weitgehend unreguliert ist, es bei der Debatte um Ausbeutung also um mehr gehen muss, als nur um jene, die sich prostituieren. Befremdlich wird ihr Relativismus, wenn sie schreibt, dass manche der Arbeitsbeziehungen zwischen Prostituierten und Zuhältern von einigen Psychologen wohl als dysfunktional oder missbräuchlich bezeichnet werden würden, was aber auch für viele Ehen gelte.

[5] Der Fotograf Txema Salvans hat spanische Straßenprostituierte bei der Arbeit fotografiert und die Fotos 2014 in einem Buch namens The Waiting Game veröffentlicht. Seine Fotos sind eindrucksvoll, aber ethisch problematisch – denn Salvans fragte die Frauen nicht um Erlaubnis und fotografierte sie heimlich, verkleidet als Vermessungstechniker.

[6] Von einem Besuch des Paradise raten wir ab.