Guten Morgen, Tallinn! (Unterwegs in Europa, Tag 2)

von Oskar Piegsa

Guten Morgen, Tallinn!

Das ist Tallinn – nur einige Kilometer abseits der Postkartenmotive in der Altstadt.

Beim Blick aus dem Fenster (durch Vorhänge, die womöglich noch aus Sowjetzeiten stammen) sehen Claudius und ich heute morgen die Wohnblöcke einer Trabantenstadt (die ganz sicher noch aus Sowjetzeiten stammen). Wir befinden uns gut sechs Kilometer östlich vom historischen Stadtkern der estnischen Hauptstadt Tallinn.

Gefühlt sind die mittelalterlichen Tavernen und Bernstein-Boutiquen der Altstadt hier noch weiter weg. Während im alten Hafen regelmäßig mit Fähren und Kreuzfahrtschiffen ausländische Touristen ins Land gespült werden, bleibt man in dieser Gegend eher unter sich. Gesprochen wird hier nicht Englisch, Finnisch oder Schwedisch, wie unter den Touristen in der Innenstadt, auch nicht Estnisch, sondern vornehmlich Russisch.

Rund 25 Prozent der Menschen in Estland haben sich beim letzten Zensus als Russen identifiziert. Sie (oder ihre Eltern) sind zu Zeiten der Sowjetunion ins Land gekommen sind – und geblieben, als Estland 1991 unabhängig wurde. Die Sprache ist ein Streitpunkt der estnischen Minderheitenpolitik. Die estnische Staatsbürgerschaft wurde nach der Unabhängigkeit an Sprachkenntnisse gekoppelt, was für viele Russen bedeutete, dass sie keinen estnischen Pass bekamen (während der Sowjetunion wurde niemand angehalten, die Landessprache zu lernen, so heißt es immer wieder in der Literatur – als Sprache des Internationalismus galt schließlich das Russische). Außerdem versucht die Regierung in Tallinn seit einigen Jahren, die Zahl der russischsprachigen Schulen im Land zu verkleinern – das sagen zumindest Vertreter der russischen Minderheit.

Der andere Streitpunkt ist der unterschiedliche Umgang von Esten und Russen mit der jüngeren Geschichte. Neben dem Eurovision Song Contest, dem die jugendliche Tochter unserer russischen Gastgeberin schon entgegenfiebert, steht morgen ein besonderes Fest für die hiesigen Russen an, das einigen Esten ein Dorn im Auge ist: Der „Tag des Sieges“, an dem man der Rotarmisten gedenkt, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft und den Faschismus zerschlagen haben.

Bloß haben die Rotarmisten leider nicht nur den Faschismus zerschlagen, sondern auch Estland und die beiden anderen baltischen Staaten besetzt. Unter Stalin wurden tausende Menschen von hier nach Sibirien deportiert. Der 9. Mai ist für die Esten kein Tag des Sieges.

Wir sind einige Zeit hier, um mehr zu erfahren über diesen besonderen Tag in Estland. Anschließend werden wir wie angekündigt in Richtung Wien aufbrechen und von dort weiter nach Sarajevo und Budapest reisen. In den kommenden Wochen wollen wir öfters kurze Updates in diesem Blog veröffentlichen – und ab Juni oder Juli nach und nach ein halbes Dutzend neuer Dinge Europas präsentieren.

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