Kategorie: Was wir lesen

Europa und das 21. Jahrhundert: Eine Erfolgsgeschichte? Eine Tragödie?

von Oskar Piegsa

Vor genau zehn Jahren wurde ein Buch veröffentlicht, dessen zentrale These heute, nun ja … unwahrscheinlich klingt, um es diplomatisch zu formulieren. Der Titel des Buches: Why Europe Will Run the 21st Century.

Schon damals muss das Buch von Mark Leonard eine Provokation gewesen sein – aber eine, die wohlwollend aufgenommen wurde. In der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs hieß es etwa in einer Kritik:

Of all the recent books that celebrate the merits and the promise of the European Union, this short work […] is the most provocative and thoughtful.

Leonards Buch wurde laut seinem Autor in 19 Sprachen übersetzt, weithin besprochen und provozierte sogar eine Replik, ebenfalls in Buchlänge: Why Europe Will Not Run the 21st Century.

Kurz: Das Buch, dessen Titel heute so unwahrscheinlich klingt, wurde ernst genommen.

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Curating the Now. First thoughts on the idea and implications of Rapid Response Collecting

von Oskar Piegsa

One of the new objects on display at the V&A is this, a gun that comes from a 3D printer (CC image by Electric-Eye via flickr)

I’ve learned a new term today. Indeed, it’s quite a facy one that will help me smarten up my rusty English.

Check this out: Rapid Response Collecting.

Sorry, but … Rapid what? Well, apparently, the folks at Britain’s Victoria and Albert Museum (V&A, »The world’s greatest museum of art and design«) are trying their hands at a new concept.

Okay, so what is Rapid Response Collecting about?

From what I can tell so far, Rapid Response Collecting centers on the idea that museums aren’t exclusively for old stuff. What follows is that curators select objects that are representative of what’s happening right now.

In the V&A’s own words
:

Rapid Response Collecting is a new strand to the V&A’s collecting activity. […] The display, which will constantly change, shows how design reflects and defines how we live together today. Ranging from Christian Louboutin shoes in five shades of »nude«; a cuddly toy wolf used as an object of political dissent; to the world’s first 3D-printed gun, each new acquisition raises a different question about globalisation, popular culture, political and social change, demographics, technology, regulation or the law.

Curators of other museums are watching this idea closely, according to the New York Times:

Sebastian Chan, the director of digital and emerging media at the Cooper Hewitt, Smithsonian Design Museum, in New York, called rapid-response collecting »a bold move« that »opens up a new way for the museum to engage the public in the social and political context of the designed products and services in the world around them.« He added that when the Cooper Hewitt reopens in December after a renovation, it will have space for »our own rapid-response initiatives and we will be watching the V&A’s work closely.«

The Rapid Response show opened only recently and being stuck in Hamburg with a day job and recovering from a summer flu, I haven’t had a chance to make plans for a trip to London yet. However, some of the displays must be quite intriguing. I love how they staged the aforementioned »nude« shoes.

Yeah … but what if Rapid Response Collecting turns out to be a bad idea?
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Grundgesetz gegen Motorenlärm (Unterwegs in Europa, Tag 17)

von Oskar Piegsa

Roadtrips haben Regeln. Die erste Regel lautet: Wer am Steuer sitzt, darf bestimmen, welche Musik läuft. So hat mir das zumindest Jacob Dilßner alias DJ Wankelmut erklärt, der auf einem Roadtrip durch die USA die Idee für seinen ersten Nummer-1-Hit bekommen hat, den Remix von Asaf Avidans „Reckoning Song“ („One Day, Baby …“ und so weiter).

Derlei musikalische Inspirationen sind Claudius und mir fremd, denn wir haben kein Autoradio. Also, wir haben schon eins, aber es liegt im Kofferraum. Der Vorbesitzer unseres Gebrauchtwagens hat an den Audiokabeln herumgepfuscht, ohne Spezial-Adapter kriegen wir das Radio nicht zum Laufen – und Spezial-Adapter sind rar, zumindest haben wir zwischen Zagreb und Kraków bisher keinen Autoschrauber gefunden, der sie uns hätte verkaufen können.

Unser Roadtrip ist deshalb notgedrungen sehr gesprächig. Wenn wir einander gerade nichts zu sagen haben, lassen wir andere zu Wort kommen. Wir lesen uns vor: Essays von Slavenka Drakulić, Berichte zur Europawahl (zum Beispiel Justus Benders Reportage über den AfD-Wahlkampf) und zuletzt die Festrede, die Navid Kermani zum 65. Jubiläum der Verabschiedung des Grundgesetzes im Bundestag gehalten hat.

Wegen dieser Rede hat es sich fast gelohnt, dass wir die Sache mit dem Autoradio nicht auf die Reihe bekommen haben. Kermani unterzieht das Grundgesetz einer schwärmerischen Stilkritik, lobt den Mut seiner Verfasser und beschwert sich im Bundestag dann über die „Verstümmelung“, welche die faktische Abschaffung des Asylrechts in Deutschland an Geist und Text des Grundgesetzes bedeute. Navid Kermani sagt:

Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind. Und Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen. Andere ertrinken im Mittelmeer ‑ jährlich mehrere Tausend ‑, also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feststunde. Deutschland muss nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen; aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittstaaten abzuwälzen.

Bämm! In der Berichterstattung zum Festakt hieß es, dass Parlamentarier, die eben noch Kermanis Lob aufs Grundgesetz beklatschten, nun plötzlich bedröppelt schauten. Einige nörgelten später und sagten sinngemäß, etwas weniger Kritik hätte es auch getan. Ha! Was für eine Rede!

Pointiert kommentierte der Feuilletonist Nils Minkmar gestern in der FAZ: „Navid Kermani erinnerte während des Festakts zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes daran, wozu man Intellektuelle braucht: um Reden zu halten, in denen etwas gesagt wird.“

Die Rede von Navid Kermani kann man auf der Website des Bundestags nachlesen. Einen Videomitschnitt gibt es hier. (Mit Dank an alle Facebook-Freunde, die gestern Abend unsere Aufmerksamkeit auf Kermanis Rede gelenkt haben!)

Wie die Nazis über Europa dachten (Lesetipp)

von Oskar Piegsa

Heute mal keine Reisenotizen wie in den letzten Tagen, sondern ein Lesetipp zur Geschichte der europäischen Idee:

Während nach 1918 die deutsche Rechte anti-europäisch war, brach nach dem Sieg über Frankreich 1940 ein wahrer „Europa-Rausch“ aus, wie der Freiburger Historiker Ulrich Herbert erzählt. (…) Eine der wirkmächtigsten Legenden, die schon lange über Europa erzählt wird, behauptet, die Idee der europäischen Einigung sei 1945 – vorbereitet in den Jahren davor von italienischen Antifaschisten – wie eine Erlösungsformel über die Völker des vom Krieg zerstörten Kontinents gekommen. Dass aber auch die Nazis Europäer gewesen sein sollen, das auszuplaudern ist bis heute verboten.

Das schreibt Rainer Hank in einem Essay, der in der gestrigen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist. „Verboten“ ist vielleicht ein etwas zu dramatisches Wort – aber verblüffend finde ich seinen Text über die europäische Idee der Nationalsozialisten allemal. Um zu Hanks Text zu gelangen, bitte mal hier klicken.

[Nachtrag 26. Mai 2014] Danilo Scholz (Mitherausgeber der Essaysammlung „Euro Trash“) hat den Essay von Rainer Hank ebenfalls gelesen und dabei einen kühleren Kopf behalten als ich. Nach einem kritischen Kommentar von Danilo auf Facebook fühle ich mich ertappt und zur Ordnung gerufen. Deshalb dieser Nachtrag.

Dass Hank behauptet, es habe den „bösen Nationalismus“ der Nazis „gar nicht“ gegeben, ist haarsträubend. Die positive Provokation von Hanks Text liegt für mich darin, dass er „Europa“ als leeren Signifikanten entlarvt. Er zeigt: Für „Europa“ zu sein, kann vieles bedeuten, auch Dinge, die sich gegenseitig ausschließen und die ich für politisch und moralisch falsch halte. Statt bloß „für Europa“ zu sein, müssen wir deshalb darüber reden, für welches Europa wir sind.

Mag sein, dass das banal ist – und dass meine obige Empfehlung des Textes nicht nur im Zustand der geäußerten Verblüffung erfolgte, sondern auch in einem Moment kritischer Kurzsichtigkeit. Um das klar zu sagen: Ich glaube nicht, dass eine Problematisierung des Europabegriffs notwendig zu Folge hat, dass man den Begriff der Nation entproblematisiert. Schon gar nicht den nationalsozialistischen Begriff der Nation.

Dass es eine nationalsozialistische Idee von Europa (unter deutscher Führung, mit rassistischen Hierarchien, mit genozidalen Programmen) gegeben hat, ändert zudem nichts daran, dass (eine ganz andere Vorstellung von) Europa auch Antifaschisten motivierte, wie Danilo schreibt: „Camus‘ „Lettres à un ami allemand“ begründen den Eintritt in den Widerstand mit der Verteidigung des europäischen Ideals. Dem Mathematiker Jean Cavaillès ging’s um das Erbe der europäischen Aufklärung. Den Gestapo-Leuten, die ihn am 17. Februar 1944 erschossen haben, eher weniger.“