Roadtrips haben Regeln. Die erste Regel lautet: Wer am Steuer sitzt, darf bestimmen, welche Musik läuft. So hat mir das zumindest Jacob Dilßner alias DJ Wankelmut erklärt, der auf einem Roadtrip durch die USA die Idee für seinen ersten Nummer-1-Hit bekommen hat, den Remix von Asaf Avidans „Reckoning Song“ („One Day, Baby …“ und so weiter).
Derlei musikalische Inspirationen sind Claudius und mir fremd, denn wir haben kein Autoradio. Also, wir haben schon eins, aber es liegt im Kofferraum. Der Vorbesitzer unseres Gebrauchtwagens hat an den Audiokabeln herumgepfuscht, ohne Spezial-Adapter kriegen wir das Radio nicht zum Laufen – und Spezial-Adapter sind rar, zumindest haben wir zwischen Zagreb und Kraków bisher keinen Autoschrauber gefunden, der sie uns hätte verkaufen können.
Unser Roadtrip ist deshalb notgedrungen sehr gesprächig. Wenn wir einander gerade nichts zu sagen haben, lassen wir andere zu Wort kommen. Wir lesen uns vor: Essays von Slavenka Drakulić, Berichte zur Europawahl (zum Beispiel Justus Benders Reportage über den AfD-Wahlkampf) und zuletzt die Festrede, die Navid Kermani zum 65. Jubiläum der Verabschiedung des Grundgesetzes im Bundestag gehalten hat.
Wegen dieser Rede hat es sich fast gelohnt, dass wir die Sache mit dem Autoradio nicht auf die Reihe bekommen haben. Kermani unterzieht das Grundgesetz einer schwärmerischen Stilkritik, lobt den Mut seiner Verfasser und beschwert sich im Bundestag dann über die „Verstümmelung“, welche die faktische Abschaffung des Asylrechts in Deutschland an Geist und Text des Grundgesetzes bedeute. Navid Kermani sagt:
Auch heute gibt es Menschen, viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder existentiell angewiesen sind. Und Edward Snowden, dem wir für die Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen. Andere ertrinken im Mittelmeer ‑ jährlich mehrere Tausend ‑, also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feststunde. Deutschland muss nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen; aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittstaaten abzuwälzen.
Bämm! In der Berichterstattung zum Festakt hieß es, dass Parlamentarier, die eben noch Kermanis Lob aufs Grundgesetz beklatschten, nun plötzlich bedröppelt schauten. Einige nörgelten später und sagten sinngemäß, etwas weniger Kritik hätte es auch getan. Ha! Was für eine Rede!
Pointiert kommentierte der Feuilletonist Nils Minkmar gestern in der FAZ: „Navid Kermani erinnerte während des Festakts zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes daran, wozu man Intellektuelle braucht: um Reden zu halten, in denen etwas gesagt wird.“
Die Rede von Navid Kermani kann man auf der Website des Bundestags nachlesen. Einen Videomitschnitt gibt es hier. (Mit Dank an alle Facebook-Freunde, die gestern Abend unsere Aufmerksamkeit auf Kermanis Rede gelenkt haben!)